Arte about Marjoleine Boonstra -

Arte about Marjoleine Boonstra

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 BOONSTRA, Munich DANCE

GEGENWELTEN

Sehr geehrte Damen und Herren,

Marjoleine Boonstra wurde 2007 von der „Dutch Directors Guild“[1] gefragt, welchen Film sie gerne selber gemacht hätte. Sie nannte „Afterlife“ von Kore-eda Hirokazu.

Natürlich habe ich mir den Film gleich geholt, als ich hörte, dass ich hier eine kurze Einführung machen darf. In Afterlife, sehen wir eben gerade gestorbene Menschen, zunächst in einem Verwaltungs-Ambiente später bei Dreharbeiten in improvisierten Filmstudios. Die Verwalterinnen und Betreuer versuchen in Gesprächen mit den Toten einen einzigen wichtigen und wertvollen Moment ihres Lebens herauszufinden, denn er wird das Einzige sein, das die Gestorbenen von dieser Zwischenstation ins definitive Reich des Todes mitnehmen werden. Das aus den gefundenen Erinnerungen ausgewählte Fragment, wird dann im Filmstudio mit jedem einzelnen liebevoll und präzise so lange bearbeitet, bis es von den Betroffenen als identisch mit dem erinnerten Erlebnis empfunden wird. Die Gestorbenen schauen sich die so entstandenen Kurzfilme gemeinsam an. Während die Erinnerungen über die Leinwand flimmern, lösen sich jeweils diejenigen Menschen im Kinosaal auf, deren Erinnerungs-fragmente gerade projiziert wurden.

Die Zwischenreiche, die Marjoleine Boonstra aufsucht, sind auf der Erde und die Menschen, die sie befragt  -  leben.

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Das vertraute alte Leben ist weggebrochen - sei es durch  Naturkatastrophen, sei es durch Krieg – und die Menschen, die wir in Boonstras Filmen treffen, befinden sich auf einer provisorischen Zwischenstation. Sie sind nicht mehr in ihren gewohnten Umgebungen, sie sind an Gemeinschaftsorten zusammen geführt worden und sie wissen nicht genau, wie es weitergehen wird, ob es weitergehen wird.

Und trotzdem stehen sie jeden Tag wieder auf. Und es ist dieses trotzdem, das die Autorin besonders interessiert. Wie organisiert und orientiert sich der Mensch am Nullpunkt. Was bleibt, wenn die Routinen des Alltags fehlen? Wie mache ich weiter ohne Freunde und Familie?

Boonstra lädt uns auf zwei waagrechte Fahrten ein. Irgendwann ist mir diese wiederkehrende Horizontale in den Filmen aufgefallen. Keine exotischen Blickwinkel, keine Froschperspektiven, keine stürzenden Kameras. Nur zwei ruhige Bewegungen in der Waagrechten: Einmal gleiten wir mit der Kamera, oft ein bisschen über dem Boden schwebend, meist in den frühen Morgenstunden, nahe, aber doch mit respektvoller Distanz zu den vielleicht noch schlafenden Menschen, an Zelten, Parkplätzen, Hallen vorbei. Ein langes Fragezeichen. Die zweite Horizontale müssen wir ohne die Kamera machen, es ist eine Einladung in ein Gesicht einzutauchen. Die Kamera bleibt statisch, aber die erzählenden und oft sogar noch mehr die schweigenden Antlitze entwickeln einen Sog in die Bildtiefe.

Ant [entgegen, angesichts, gegenüber, vor] – litze [blicken, schauen, sehen], sind eigentlich Entgegenblickende und damit etwas, das da draußen feststeht, ein Gegenüber, eine Grenze. Trotzdem schauen wir nicht auf diese Gesichter sondern in sie hinein. Beim Schauen ist mir dazu die Stelle aus dem letzten der vier ernsten Gesängen von Johannes Brahms eingefallen:

„Wir sehen jetzt durch einen Spiegel in einem dunkeln Worte, dann aber von Angesicht zu Angesichte. [Jetzt erkenne ich's stückweise, dann aber werd ich's erkennen, gleich wie ich erkennet bin.]“ S.Pauli an die Corinther I,Cap.13

Boonstra arbeitet mit Spiegeln.  Als ich das zum ersten Mal las war ich sehr skeptisch. ‚Spiegel und Film’ - das erinnerte mich an meine Zeit in der Verhaltensforschung. Um Sozialverhalten möglichst ungestört zu dokumentieren wurde hier früher über Spiegelmechanismen gleichsam um die Ecke gefilmt. Und diese Art der wissenschaftlichen Beobachtung – oder sollte ich sagen Überlistung – ist für mich erledigt. Aber Marjoleine Boonstra hat damit glücklicherweise auch überhaupt gar nichts zu tun. Sie setzt den Spiegel ganz anders ein. „Der Spiegel hilft mir, ein Teil von ihnen zu sein.“ Der Spiegel ist also einerseits ein Mittel der Annäherung – auch für uns als Betrachter. Andererseits ist er aber auch der Spiegel des Selbstporträts, der Konfrontation mit sich selbst, denn die Menschen sind während des Filmens mit ihren eigenen Gesichtern konfrontiert. Boonstra möchte, dass die Leute, mit denen sie arbeitet „etwas Neues von sich erfahren haben, wenn sie mit mir gedreht haben. Ich denke, dass sie für einen Moment wissen, wo sie emotional stehen und dass sie darüber noch nicht nachgedacht haben, das mit jemand anderem zu teilen.“ Sie macht also die Filme nicht nur für uns, sondern auch für die, die mit denen sie arbeitet. Man kann vielleicht noch weitergehen und sagen, die Dokumentaristin porträtiert nicht, sie schafft eher die Bedingungen für eine Begegnung der Menschen, die sie zeigt, mit sich selber. Ihre ‚Mirror Movies’ bauen einen Raum auf, der es ermöglicht zuzuschauen, wie jemand von Angesicht zu Angesichte sich wiederfindet nach einer Katastrophe.[3] Wir als Publikum sehen, wie diese Repräsentation des ganzen Menschen im Gesicht die Gesichter selbst nachdenklich macht. Wir als Zuschauer haben damit teil an diesen bewegten Selbstbildnissen, die sich im Moment der Dokumentation malen.

Zitat Boonstra

„Es geht um einen bestimmten Blick, einen Blick, der viel Elend miterlebt hat.

Dieses kleine Detail, dass sich der Blick einfach geändert hat und man sieht, dass sie das auch sehen.

Sie gehen sofort in ihr eigenes Spiegelbild -  sie vergessen mich auch, manchmal sind sie eben drei Minuten still.“

Wir sehen zu, wie Menschen sich selbst anschauen. Man kennt das Phänomen. Man kann es auch an spielgelnden Flächen im öffentlichen Raum beobachten: Menschen checken kurz, ob das Spiegelbild dem Selbstbild entspricht und machen gegebenenfalls einige Korrekturen. Einige probieren etwas aus. Andere erschrecken und schauen schnell wieder weg. Kleine Konfrontationen mit sich selbst -  allerdings beiläufige, flüchtige, unkonzentrierte. In den Mirror Movies dagegen gibt es kein Entrinnen. Oft wandern zwar die Augen der Gefilmten aus dem Bild, sie weichen dem Spiegelbild aus – aber sie kehren zurück. Dabei finden und vergegenwärtigen sie Vergangenes: Erinnerungen, die das Unheimliche wiederbeleben; Erinnerungen, die an das zurückgelassene Verlorene anknüpfen; Erinnerungen, deren wiederkehrendes Dunkel den Atem stocken lässt. 

Die Menschen sitzen vor ihrem eigenen Bild, sie stellen sich dem eigenen Bild.[4]

Es gibt, in Wien, ein Selbstporträt vom alten Rembrandt [Kleines Selbstbildnis 1657]. Es unterscheidet sich sehr von seinen Selbstporträts der Jugendzeit. Keine Posen, keine Roben, keine Rollenspiele. Er schaut sich einfach an – ungeschminkt, alt, fragend. Es stammt aus der Zeit seines wirtschaftlichen Ruins. Ein Jahr später musste er sein Haus verlassen. In der Not scheint die Bereitschaft größer, der Wirklichkeit ins Auge zu schauen.

Und dass einem ausgerechnet Rembrandt einfällt kommt sicher nicht von ungefähr. Hervorziehen – pro trahere soll die etymologische Herkunft von Porträt sein – hervorziehen, ans Licht bringen. Der Meister des Helldunkel wusste genau, wie man das macht. Und Boonstra weiss es auch: Auf den  Filmstills - als Titelbilder auf den DVDs - wachsen alle Gesichter aus dem Dunkel ins Licht. Zurück in den Filmen sieht man jetzt überall die subtile Arbeit mit dem Licht.[5]

Also so ganz selbst gemalt haben sich diese Porträts dann doch nicht. Da ist viel feinste Gestaltung am Werk, aber sie zieht sich zurück hinter die Inhalte. Je öfter man die Sequenzen anschaut, umso mehr entdeckt man diese Feinheiten etwa in der Dramaturgie, in der Auswahl der gezeigten Fragmente, im Weglassen. Aber das alles können sie ja nun selber hier entdecken.

 

Marjoleine Boonstra - 

Danke noch einmal, dass Sie hier sind – ich meine in den Filmen zu spüren, dass Sie wohl lieber den Puls intensiver, oft auch gefährlicher Momente mit den Menschen teilen, als dass Sie an Vernissagen sitzen. Umso mehr schätzen wir, dass Sie die Reise nach München gemacht haben.

Alle Zitate von Boonstra sind aus dem Arte-Interview auf DVD

Walter Siegfried,


[1]        anlässlich des 10 jährigen Bestehens dieser Organisation

[2]        „Beeing normal was gone ... everything ... abnormal. An other universe. A real movie, a hell on Earth, the real deal, no special effects.“ (A bad dream) oder der Junge mit dem erstickenden „My biggest fear was dark“ Boonstra: „Why?“ Er „When it is dark, dark, dark ...“ Boonstrats aufmerksames Hinhören/ -sehen.

[3]        Wir haben eben miterlebt, wie eine junge Frau differenziert zwischen den Teilbildern, die sie von sich in kleinen spiegelnden Scherben im Flüchtlingslager gesehen hatte und dem großen Gesamtbild des Gesichtes, das sie jetzt in der Begegnung mit Boonstra seit längerer Zeit wieder als Ganzes sieht.

[4]        „... den eigentümlichen Charakter des Lächelns ... dass es im Ausdruck zum Ausdruck Abstand wahrt.“ Helmuth Plessner: Philosophische Anthropologie, Frankfurt 1970, 180

[5]        Außerdem: Frau Boonstra hat – vor dem Filmstudium – Kunst studiert in Groningen.

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